Ein Interview in der Augustausgabe der SIEGESSÄULE

© siegessäule 08|2011, Seite 24

"(...) Sie merken, da ist einer, dem geht es vielleicht auch mal nicht so gut. Aber der rennt sich politisch die Hacken wund und kümmert sich um unsere Probleme wie Fluglärm und Kitaplätze. Das trägt auch zur Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins bei. (...)"

Das Interview in der August-Ausgabe der Siegessäule:


"Carsten Schatz (Die Linke) ist der erste offen positive Kandidat für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus


Warum hast du deine HIV-Infektion publik gemacht?


Es ist ein Teil meiner Persönlichkeit, ein Teil von Carsten Schatz, der zur Wahl steht, und den ich nicht verschweigen wollte. Durch HIV habe ich Erfahrungen gemacht, gute wie schlechte, die meine Sicht auf die Welt und bestimmte Entscheidungen beeinflussen. Wenn man mit 26 seinen Lebensgefährten sterben sieht, verändert das einen. Mich hat es verändert. Daher war klar, wenn ich den Schritt gehe und fürs Abgeordnetenhaus kandidiere, kann ich das nur machen, wenn ich offen bin.

Wie spontan kam der Entschluss?

Nicht spontan. Schon als ich Geschäftsführer der Linken, damals noch PDS, wurde, habe ich es im Parteiumfeld öffentlich gemacht, da ich fand, dass die Leute, die mit mir zusammenarbeiten, das wissen müssen. Über die Jahre habe ich den Kreis immer weiter gezogen.

Inwiefern ähnelt das HIV-Coming-out einem Homo-Coming-out?

Ich sehe da Parallelen. Aber ich erlebe Ablehnung und Angst auch in der Community. Das kapiere ich nicht ganz, dass Menschen, die selbst einmal durch einen solchen Prozess gegangen sind, jetzt in den gleichen Mechanismen reagieren, die ihnen einst begegnet sind. Viele Positive halten ihr HIV geheim und reden nicht drüber.

Warum ist das bei dir anders?

Ich will nicht, dass z. B. hinter meinem Rücken geredet wird oder bestimmte Fragen auftauchen. Im Laufe meiner HIV-Infektion hatte ich schon mal das Vollbild Aids. Ich will u. a. zeigen, dass ein Schwerbehinderter mit HIV auch Politik für und mit Menschen machen kann. Das gehört dazu, es gehört zu mir und es gehört zu Berlin.

Noch mal, warum ist es für dich keine reine Privatsache?

Von meinem politischen Bewusstsein eines Nach-68ers sage ich: „Das Private ist politisch.“ Wir können als Gesellschaft nur mit HIV umgehen – das ist mein Credo, wenn ich im Rahmen der Aids-Bewegung unterwegs bin –, wenn wir Leute mit unserem Serostatus konfrontieren, sie Erfahrungen machen lassen. Diese Erfahrungen können dazu beitragen, Dinge zu verändern.

Welche Erfahrungen sind das?

In der Bevölkerung sind oft noch die alten Bilder von HIV präsent. Im Gespräch und aus eigenen Erfahrungen begreifen die Leute, dass diese Bilder nicht mehr aktuell sind. Sie merken, da ist einer, dem geht es vielleicht auch mal nicht so gut. Aber der rennt sich politisch die Hacken wund und kümmert sich um unsere Probleme wie Fluglärm und Kitaplätze. Das trägt auch zur Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins bei.

Gerade wegen der alten Bilder ist dein Outing ein Wagnis!

Ja, ich setze mich auch Risiken aus. Ohne die Konfrontation wird es nicht gehen. Und da ist mir das Ziel wichtiger, insofern nehme ich das andere in Kauf.

Wie reagieren die Leute konkret?

Ganz unterschiedlich. Manche sind erstaunt, dass sich HIV bzw. Aids so stark verändert hat. Aus der HIV-Community bekomme ich positives Feedback. Unangenehm empfinde ich z. B., wenn einer sagt: „Aber ich hatte einen Schlaganfall und rede auch nicht drüber.“ Generell finde ich es wichtig, über Einschränkungen zu reden. Doch HIV ist nach wie vor ein Tabu. Solange jede von der Norm abweichende Sexualität noch tabu ist – oder analog dazu der Drogengebrauch tabu und kriminalisiert ist –, wird der Umgang mit HIV längst nicht normal oder gar banal sein.

Wie erlebst du die soziale Seite, HIV als Stigma?

Meine überwiegende Erfahrung ist gut. Insofern kann ich Positive nur ermutigen: Zeigt euch! Aber jeder soll selbst entscheiden, wie offen er damit umgehen kann. Den Terminus der Entstigmatisierung halte ich für Unfug. Ein Mal zu haben, anders zu sein, ist doch erst mal nichts Schlechtes. Was man tun muss, ist Diskriminierung überall da zu bekämpfen, wo die Gesellschaft Verhältnisse geschaffen hat, die Leute strukturell benachteiligen. Wir leben übrigens alle mit irgendwelchen Malen. Die Chance liegt darin, dass wir uns so annehmen, wie wir sind, und uns damit auseinandersetzen. Das ist das Spannende an Berlin, weil so was hier klappt.

Interview sisa"

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