Marx würdigen

Gregor Gysi

Als das ZDF vor fast 15 Jahren nach den größten Deutschen fragte und 1,5 Millionen Menschen antworteten, landete Karl Marx auf Platz 3. Nicht wenige waren damals überrascht, gerade weil die Vereinnahmung und auch der Missbrauch des Marxschen Werkes durch den Staatssozialismus ihn auf Dauer zu diskreditieren schien. Aber die Kraft und Wichtigkeit seines Denkens erwies sich als stärker. Dass nun in Trier, Marx‘ Geburtsstadt, ein Denkmal aufgestellt werden soll, müsste eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Doch in Deutschland unterliegt ein selbstbewusstes Verhältnis zu historischen Persönlichkeiten zu oft dem politischen Zeitgeist. So wie man es in Kommunen mit linken Mehrheiten sehr schwer hätte, eine Gasse nach Bismarck zu benennen, ist es nahezu unmöglich, konservative Mehrheiten dazu zu bewegen, Clara Zetkin zu würdigen. Berlin hat in Bezug auf Marx wenig Nachholbedarf. Denkmals- und Namensstürmerei, die im Osten nach der Wende weit verbreitet waren, machten vor Marx halt, so dass wir zwei große Straßen und ein Denkmal in der Stadt haben, die an Marx erinnern. Marx 11. These über Feuerbach – Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu verändern – prägt nach wie vor das Foyer der Humboldt-Uni­versität.

Karl Marx verdient es, gewürdigt zu werden – als einer der größten Söhne unseres Volkes. Er hat trotz zeitbe­dingter Mängel eine komplexe Sichtweise zum Kapitalismus geliefert, die auch heute niemand auslassen kann, wer sich ernsthaft mit den Wirkungsweisen und Gesetzmäßigkeiten der Wirtschaftsordnung befasst. Wir haben damit auch die Gelegenheit, ihn von den vorgeblich unumstößlichen Wahrheiten des Marxismus zu befreien, von denen er als Anhänger der wissenschaftlichen Dialektik mit Sicherheit nichts gehalten hätte. Marx sagte, er sei vieles, aber bestimmt kein Marxist.

Gregor Gysi 

 

Aus dem Blättchen (Mai 2018)