Keine Heimattümelei

Gregor Gysi

Heimat ist vielen Menschen wichtig – und das auch zurecht, weil sie damit Gegenden und Menschen verbinden, in und mit denen sie geworden sind, was sie heute sind. Kindheit, Familie und Freunde beschreiben deshalb für die meisten auch viel mehr und viel nachhaltiger ihre Heimat, als irgendein Ministerium oder in den Behörden aufgehängte Kreuze dies könnten.

Meine Heimat etwa ist Berlin. Als ich 1948 in Berlin-Lichtenberg im Ostteil der Stadt geboren wurde, gab es weder die DDR noch die Bundesrepublik. Meine Eltern wohnten in Nikolassee in Westberlin. Dass meine Mutter zur Geburt nach Lichtenberg fuhr, hatte vor allem damit etwas zu tun, dass ihr künftiger Schwiegervater dort im Krankenhaus als Arzt tätig war. Ich bin also in keinem Staat geboren, doch Berliner bin icke von Kindesbeinen an. In Berlin aufgewachsen zu sein und heute immer noch in der einst geteilten und nun zusammen wachsenden Stadt leben zu können, ist für mich ein Glück. So wie es für andere eben Hamburg, Erfurt, Köln, München, Dresden, Lieberose, die Uckermark, Westfalen oder die Ostalb ist.

Menschen verbinden mit Heimat gewöhnlich nicht Staaten oder Länder. Es braucht also kein Heimatministerium, bei dem ich mich ohnehin frage, was die vielen neuen Beamten dort eigentlich zu tun haben werden. Verordnete Identität hat aber noch nie und nirgendwo funktioniert, sondern führt lediglich zu Ab- und Ausgrenzung. Nicht jeder Mensch hat Heimatgefühle, doch eine Heimat haben alle. Deshalb gehören Respekt und Offenheit für die Heimat der anderen zu einer menschlichen ­Gesellschaft. Damit dies so bleibt und niemand heimatlos wird, müssen Kriege beendet, soziale Not überwunden und die Allmacht der Großkonzerne wenigstens begrenzt werden. Die Heimattümelei von Seehofer, Söder und Co. hilft dabei gar nicht weiter.

Gregor Gysi

Aus dem Blättchen (2018)